Leider findet sich in meinem kleinen Körper kein Platz für die Opulenz der Gefühle, die heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit beim Betrachten der Kieselsteine in mir aufstiegen und die also seit den frühen Nachmittagsstunden fortwährend aus mir herausquellen, stossweise euphorisierende Ergriffenheit, stossweise Schwermut angesichts der seltenen Choreografien, in denen die Steinchen versprengt dalagen und angesichts dem beflissenen Wechsel von Anthrazittönen zu Ocker, je länger ich ging, und die Reifenspuren der Kinderwagen in der unförmigen Masse sterbender organischer Substanz, halb auf dem Gehweg, halb unter dem diesen begleitenden Gebüsch, dunkles Laub, Erde, verwilderter Schnee, Snuspäckchen und der Niederschlag des städtischen Verkehrs, sicher mussten die Kinderwagenlenker den Übergang der Farben am Himmel wahrgenommen haben, von Aschgrau zu Blau, ein Hinübergehen wie beim Wandel von Gewohnheiten oder Verlernen selten ausgeführter Handgriffe.

Aus aktuellem Anlass deshalb das Bild einer Büste. Sie steht im Gemeindehaus des flämischen Orts Sint-Martens-Latem, Kunstliebhabern sei der Ort ein Begriff. Durch eine verunreinigte Kameralinse verzerrte sich leicht die Nase, was zu einer unbeabsichtigten Korrektur jener Krümmung führte, die in natura auf halber Höhe des Nasenbeins zu finden ist.

Wird diese die ursprüngliche Krümmung aufhebende durch Verunreinigung herbeigeführte Krümmung durch digitalen Eingriff rückgängig gemacht, respektive erneut vollzogen, so zeigt sich einem dieses Bild:
Seinerseits Teil eines grösseren Bildes, das die Rückseite des Aufnahmeorts zeigt, nur Sekunden nach dem Auslösen des Verschlusses, zum Zeitpunkt also eines allgemeinen Überschusses an sinnlicher Aufmerksamkeit, der zur Folge hatte, dass der Fluchtpunkt aus der anderen Zimmerecke des Empfangsraums im Gemeindehaus von Latem in den Garten mit dem üppigen Apfelbaum und darüber hinaus erst den Ufern der Leie ein gutes Stück Weg entlang und schliesslich nordwärts bis zur Halbinsel Djurgården in Stockholm sprang, genauer an deren südlichste Stelle, der Waldemarsudde, wo Prinz Eugen Napoleon Nikolaus von Schweden zu leben und malen pflegte und eine – heute ziemlich grosse – Eiche sein Eigen nannte.
Als ich zufällig an dieser Eiche vorbei spazierte und mich der genannte Fluchtpunkt an der rechten Schläfe traf, erinnerte ich mich erst vage, dann immer deutlicher an ein Buch, das an mindestens zwei Stellen von demselben Baum erzählte. Obschon er dort in einem etwas wärmeren Klima wuchs, wusste ich, dass es dieselbe Eiche war. Die Komposition, mit der die grösseren Äste Striche zeichneten und die kleineren sich in ihren Verästelungen gänzlich verloren, war identisch mit den ungenau gewählten und sonderbar gesetzten Wörtern im Buch. Der Zufall wollte darüber hinaus, dass doch tatsächlich ein Exemplar dieses Buches neben dem Stamm im Schnee lag. Ich hob es auf, schüttelte den Schnee weg und öffnete es an dieser Stelle:
Da an dieser Textstelle kein Baum wuchs, steckte ich den Titel in meine Manteltasche, im Vorhaben später, vielleicht Zuhause oder in einem Bierrestaurant, die beiden Stellen herauszusuchen. Da sich langsam die Restwärme des Körpers aus den Füssen zurückzog und mit ihr die poetische Kraft der Kälte den Zumutungen des restlichen Tages Platz machte, entschloss ich – halb naiv, halb Übermut –, auf den Baum zu klettern. Schliesslich würde Wärme ja steigen. Obschon ein schlechter Kletterer, wollte die Erzählung des Tages dennoch, dass ich über den Felsen von hinten auf den leicht abzweigenden Nebenstamm klettern konnte, ein dicker Ast, ein zweiter und schon war ich wenigstens zwei Meter über Schnee. Wie mir gerade einfiel, dass mir ein Vetter meines Vaters beim Angeln auf dem gefrorenen Sivakkasee bei zwei Dutzend Grad Celsius unter Null riet, meine Füsse im Schnee zu verbuddeln, entfiel mir auch schon selber Gedanke (oder jene Erinnerung), angesichts der überraschenden Aussicht, die sich mir zeigte.
Ich hatte viel davon gelesen, wie mitten in Shanghai Neubau in Echtzeit aus historischen Häusern wachse. Als ich jedoch den Bau eines zukünftigen Einkaufszentrums mit eigenen Augen mitverfolgen durfte, war ich über dieses Spektakel doch sehr angetan und gleichsam irritiert: Wurde hier tatsächlich gebaut oder doch eher abgebaut? Die Reklametafel für die Restaurants, in denen sich vom Einkauf ermüdete Menschen verpflegen werden, waren unter Wetter und Sonne bereits verblichen. Auch dass die Bauarbeiter gerade Pause machten und ungefähr die Hälfte von ihnen zeitgleich am Trinken war, machte es nicht einfacher zu verstehen, was genau geschah.
Möglich auch, dass ich mit meinem westlichen Blick nicht nur das Konzept von, sondern auch die konkrete Weise, in der sich hier Zeit ereignete, völlig missverstand. Bestimmt wurde an die Stelle des Neuen bereits – oder gar zum allerersten Mal – das Alte errichtet. Das Klettern hatte zwar meine Durchblutung zünftig angetrieben, doch reichte dies nicht aus, um die Wärme aus dem Oberkörper in die Füsse zu pumpen und so stieg ich hinunter und begab mich auf den Nachhauseweg.
Unter dem dünnen Eis des angefrorenen Mälaren flog ein Flugzeug von Bromma in Richtung Osten.

Erst Tage später suchte ich nach jenen Stellen im Buch, die von der Eiche handelten.

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